Der Essay "Drei Mythen über Polarisierung in Deutschland" erschien in der 6. Ausgabe der IP (November/Dezember) und ist seit dem 01. November 2021 auch online verfügbar.

... und was wir verändern müssen. Ein engagiertes Plädoyer und konkrete ­Vorschläge, wie Schwarz-Weiß-Denken aufzubrechen ist und die liberale Demokratie geschützt werden kann. Dies ist der Gewinnertext des Sylke-Tempel-Essaypreises 2021.

Polarisierung. Kaum ein Konzept wurde in letzter Zeit häufiger als Erklärung für den Zustand der deutschen Gesellschaft verwendet. In der Tat ist Polarisierung ein starkes Narrativ, das unsere sonst so unübersichtliche, chaotische und schnelllebige Zeit endlich wieder in einfache Kategorien unterteilt: diejenigen, die vehement für etwas sind, und die, die kategorisch dagegen sind. Doch starke Narrative verleiten oftmals zur Verallgemeinerung. Im Folgenden werden drei weitverbreitete Mythen über Polarisierung in Deutschland betrachtet, Fehlannahmen herausgearbeitet und drei Lösungsansätze für ein besseres Vorgehen vorgestellt. Denn um Gefahren von unserer Demokratie wirksam abzuwenden, braucht die aktuelle Diskussion um Polarisierung mehr Nuancen, als in 280 Twitterzeichen möglich ist.

Mythos I: Deutschland ist ein hoffnungslos polarisiertes Land

Bei fast allen Themen stehen sich zwei Seiten unversöhnlich gegenüber: Meinungen zu Klimawandel, gendergerechter Sprache, Lockdown-Maßnahmen und Migration. Politische Forderungen driften immer weiter auseinander und verwandeln die Debatte in ein Nullsummenspiel. Deutschland ist ein polarisiertes Land.

Diese Analyse, so einleuchtend und intuitiv sie erscheint, ist zu einfach. Studien zeigen, dass Deutschland derzeit weniger polarisiert ist, als die mediale Lautstärke vermuten lässt. Polarisierung beschreibt laut Robert B. Talisse die maximale politische Distanz zwischen zwei Akteuren. Das Phänomen der Polarisierung lässt sich innerhalb eines Systems oder auch zwischen mehreren Systemen auf verschiedenen Ebenen beobachten, beispielsweise bezogen auf Individuen, Gruppierungen, Parteien oder gesamtgesellschaftlich.

In Deutschland konnte man die Situation der Parteien vor der Bundestagswahl kaum als polarisiert charakterisieren. Stattdessen spekulierten Beobachterinnen und Beobachter vor dem 26. September über Koalitionen quer durch das politische Spektrum, von Schwarz-Grün über Rot-Rot-Grün bis hin zu Grün-Gelb-Rot. Außerdem wurde parteiübergreifend die Devise ausgegeben, keine Koalitionen mit der AfD einzugehen.

Laut Populismusbarometer der Bertelsmann Stiftung von 2020 ist Populismus rückläufig. Dies ist deswegen relevant für Polarisierung, da populistische Tendenzen die Gesellschaft oft in zwei Lager aufteilen, ein „wahres Volk“ gegen die „korrupten Eliten“. Doch in dem Bericht heißt es: „Aktuell sind nur noch etwa zwei von zehn Wahlberechtigten in Deutschland (20,9 Prozent) populistisch eingestellt. Das sind 11,8 Prozentpunkte […] weniger als im November 2018 (32,8 Prozent).“

Zudem zeigt eine Studie von More in Common (2019) mit 4000 Teilnehmenden, dass sich die deutsche Gesellschaft nicht in zwei Pole, sondern drei Lager aufteilt: die gesellschaftlichen Pole, die Unsichtbaren und die Stabilisatoren. Innerhalb des Drittels der gesellschaftlichen Pole stehen sich zwei Gruppen unversöhnlich gegenüber. Zum einen gibt es „die Wütenden“, die das System ablehnen und Eliten misstrauen. Zum anderen finden sich „die Offenen“, die Weltoffenheit, Kompromissbereitschaft und politischen Austausch predigen. Beide Gruppen haben klare Idealvorstellungen, wie Gesellschaft auszusehen hat, jedoch sind nur die Offenen zum Kompromiss bereit. Und auch wenn oft gerade junge Menschen zu den Offenen gehören, so zählen doch 45 Prozent der 18- bis 29-Jährigen zur Gruppe der Unsichtbaren. Das sogenannte „unsichtbare Drittel“ der Bevölkerung umfasst diejenigen, die sich einsam und vom politischen System distanziert fühlen. Das letzte Drittel hingegen besteht aus gesellschaftlichen Stabilisatoren, die sich mit der Gesamtlage größtenteils zufrieden zeigen und gut in die Gesellschaft integriert fühlen. Insgesamt wünschen sich zudem 70 Prozent der Befragten einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland, trotz Differenzen. Polarisierung sieht anders aus.

Das soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Studie auch besorgniserregende Entwicklungen aufzeigt. So glauben 75 Prozent der Befragten, dass die Debatte in Deutschland immer hasserfüllter wird, und 73 Prozent geben an, dass man in Deutschland nicht mehr berechtigte Meinungen äußern kann, ohne dafür angegriffen zu werden.

Das Problem ist also weniger Polarisierung per se, sondern dass ein Drittel der Gesellschaft sich immer weniger in der Politik wiederfindet, während ein anderes Drittel dafür umso lauter und hasserfüllter gegeneinander antritt. Oftmals geraten hierbei auch die sozialen Medien ins Visier derjenigen, die diese Entwicklungen erklären wollen.

Mythos II: Soziale Medien sind das Hauptproblem

Noch vor ein paar Jahren wurden soziale Medien als Chance für mehr Demokratie gesehen. In der Tat haben Online-Plattformen dazu beigetragen, dass marginalisierte Teile der Bevölkerung ihre Stimme mit mehr Einfluss geltend machen können. Gleichzeitig ist besonders in den vergangenen Jahren aber immer deutlicher geworden, dass soziale Medien Hass, Hetze und radikale Ansichten verstärken.

Tatsächlich sind soziale Netzwerke machtvolle Werkzeuge, die Radikalisierung beschleunigen und Extremisten in die Hände spielen können. Zum einen gibt es hier die Empfehlungssysteme der sozialen Medien, mit denen Plattformen unsere Aufmerksamkeit binden möchten, indem sie uns Inhalte oder Produkte zeigen, die uns wahrscheinlich gefallen. Das mag bei Produkten wie Kleidung gut funktionieren. Je mehr ich bestimmte Jeans oder T-Shirts anklicke, desto wahrscheinlicher werden mir wiederum Kleidungsstücke empfohlen, die meinen Geschmack treffen. Doch bei politischen Ansichten kann es schnell dazu führen, dass diese in die Extreme verstärkt werden. Studien haben schon 2014 gezeigt, dass YouTube seinen Nutzerinnen und Nutzern immer radikalere Inhalte empfiehlt. Und erst 2020 musste Facebook laut einer Recherche der Washington Post zugeben, dass 64 Prozent aller Beitritte zu extremistischen Gruppen online auf seine Empfehlungssysteme zurückzuführen sind.

Zum anderen bieten soziale Medien gute Möglichkeiten, die breite Öffentlichkeit mit Ideen von Randgruppen in Berührung zu bringen. Beispielsweise zeigen Jacob Davey und Julia Ebner in einer Studie von 2019, wie Rechtsextreme gelernt haben, ihre Inhalte so zu verpacken, dass sie nicht direkt illegal sind und gelöscht werden. Stattdessen nutzen sie die Grauzone dessen aus, was sozial akzeptiert und legal ist. Dabei verwenden sie verschiedene Krisennarrative (Verschwörungstheorien, Dystopien, existenzielle Bedrohungen etc.) und unterschiedliche Formate, wie beispielsweise Memes oder pseudowissenschaftliche Analysen. Zwar sind extremistische Akteure zunehmend in abgeschotteten und verschlüsselten Netzwerken wie Telegram aktiv, doch sie wollen trotzdem mit ihren Inhalten ein möglichst großes Publikum erreichen. Deswegen versuchen sie auf bekannten Plattformen mit vielen Nutzerinnen und Nutzern bestimmte Themen durch Hashtags zum Trend zu machen, um Aufregung und Aufmerksamkeit zu kreieren.

Dabei sind sie durchaus erfolgreich. Um das zu verstehen, hilft ein Blick auf die Daten, die das Center for Humane Technology über die Verbreitung von Inhalten in sozialen Medien sammelt: Desinformation erreicht schneller mehr Menschen als die Wahrheit. Tweets mit moralisch aufgeladenen und emotionalen Worten führen dazu, dass sie häufiger geteilt werden und sich schneller verbreiten („viral gehen“). Der Hauptgrund, warum bestimmte Posts geteilt werden, ist nicht deren Inhalt oder Wahrheitsgehalt, sondern deren Beliebtheit online und weil der Post von einer Person stammt, mit denen Plattform-Nutzer assoziiert werden möchten, also Freunde, Berühmtheiten oder bekannte Politikerinnen und Politiker. Emotionen gewinnen dementsprechend gegenüber Fakten, was wiederum Hass und radikale Ansichten, die eine starke emotionale Reaktion hervorrufen, in der Online-Sphäre begünstigt.

Alles in allem sollte die Gefahr, dass soziale Medien den gesellschaftlichen Diskurs mit Hass und Hetze anheizen und radikalen Akteuren eine Möglichkeit für mehr Einfluss bieten, nicht unterschätzt werden. Doch laut einer Studie von ARD/ZDF waren in Deutschland 2020 auf Twitter gerade mal 5 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahre mindestens einmal die Woche aktiv. Bei Instagram sind es 20 Prozent und bei Facebook 26 Prozent. Die Nutzung sozialer Medien allein kann also nicht das Hauptproblem dafür sein, dass sich die aktuelle politische Debatte für einen Großteil der Bevölkerung toxisch anfühlt. Stattdessen spielt eine andere Dynamik eine viel wichtigere Rolle: die zwischen sozialen Medien, Politik und traditionellen Medien, sprich Fernseh-Talkshows, Radio und Zeitungen.
Es gibt kaum Politikerinnen und Politiker, Aktivisten oder Medienschaffende, die nicht auf sozialen Medien vertreten wären. Twitter ist wie eine interaktive Visitenkarte geworden, bei der man nicht nur den Namen und Arbeitsplatz der Person erfährt, sondern auch deren Beliebtheit, die aktuellen Publikationen sowie welche Inhalte ihr oder ihm gefallen. Außerdem finden Journalistinnen und Journalisten auf Twitter und ähnlichen Plattformen immer wieder Kontroversen und Geschichten, über die es zu berichten lohnt.

Klickzahlen auf Artikel – und daraufhin abgeschlossene Abos – sind in vielen Nachrichtenorganisationen zum Maßstab für einen erfolgreichen Artikel geworden. Soziale Medien sind also für Meinungsmacher ein überlebenswichtiges Werkzeug, das zudem die eigene Popularität, Macht und den eigenen Einfluss voranbringt. Da besonders emotionale oder reißerische Artikel geteilt und geklickt werden, verleitet dies zu Überspitzung. Gleichzeitig haben einige Politiker und Medienanbieter verstanden, dass spalterische Aussagen hohe Aufmerksamkeit garantieren.

Diese immer enger werdende Bindung zwischen sozialen und traditionellen Medien bedeutet jedoch auch, dass vor allem Meinungsmacher die radikalisierende Wirkung der Online-Plattformen abbekommen. Politikerinnen und Wissenschaftler, die prominent an Corona-Entscheidungen beteiligt waren, erfahren ein hohes Maß an personalisierter Hetze in sozialen Netzwerken. Ebenso werden Journalistinnen und Journalisten immer wieder online, aber zunehmend auch offline, angegriffen, verleumdet und bedroht. Neben der etablierten politischen Elite treffen gezielte Hasskampagnen vor allem auch Aktivistinnen und Aktivisten mit LGBTQIA-Hintergrund, Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund, die politisch unterrepräsentiert sind – und so daran gehindert werden, Einfluss zu erlangen. So zog beispielsweise der aus Syrien geflohene Tareq Alaows seine Bundestagskandidatur für die Grünen zurück, nachdem er und seine Familie bedroht worden waren.

Oft verstehen wir Polarisierung noch immer als gesamtgesellschaftliches Phänomen: zwei Gesellschaftsgruppen, die einander unversöhnlich gegenüberstehen. Doch das, was die deutsche Gesellschaft momentan erlebt, ist weniger eine gesamtgesellschaftliche Polarisierung, sondern eine immer personalisiertere Auseinandersetzung, bei der ein kleiner Teil der Bevölkerung (politische Eliten und Meinungsmacher) von einem ebenfalls nicht repräsentativen Teil der Bevölkerung (wütende Online-Trolle) mit Hass und Hetze überzogen werden – was sich wiederum auf die breite Debattenkultur auswirkt.

Der amerikanische Journalist Ezra Klein fasst den so entstehenden Teufelskreis folgendermaßen zusammen: „Politische Eliten haben einen übergroßen Einfluss auf das, was in der Politik tatsächlich passiert, und sie sind ständig auf Twitter, leben in seinen Kontroversen und Ressentiments und Feedbackschleifen, und sie (wir!) schaffen eine Politik, die mehr wie Twitter aussieht, auch wenn das nicht das ist, was das Land will.“ Bisherige Lösungsansätze haben das Problem bisher allerdings wenig verbessert und teilweise sogar noch verschlimmert.

Mythos III: Wir brauchen mehr Kontakt mit der anderen Seite

Schon 2011 warnte Eli Pariser in seinem Buch vor sogenannten Filterblasen („filter bubbles/ echo chambers“). Echokammern entstehen, wenn Algorithmen und Empfehlungssysteme von sozialen Plattformen uns nur Inhalte von Gleichgesinnten vorschlagen beziehungsweise Inhalte, welche die Nutzenden wahrscheinlich interessieren. Dadurch verfestigt sich das eigene Weltbild immer mehr. In einer Demokratie ist es aber natürlich wünschenswerter, Argumente und Inhalte von allen zu hören, sowohl rechts als auch links der eigenen Haltung, und sich daraufhin eine eigene Meinung zu bilden.

Seitdem werden immer wieder Stimmen laut, wonach Echokammern aufgebrochen werden müssen, um Menschen wieder mit einer Breite an Meinungen in Kontakt zu bringen. Doch einfach die eine Seite mit Inhalten der anderen Seite in Berührung zu bringen, führt nicht zwangsweise zum gewünschten Ergebnis. So wurden bei einem Experiment in den USA Republikaner und Demokraten mit Inhalten der jeweils anderen Seite konfrontiert – und zeigten danach eine noch radikalisiertere Sichtweise auf die jeweils andere Partei und ihre Anhänger.

Solche Experimente lassen sich zwar nicht einfach auf den deutschen Kontext übertragen. Sie warnen jedoch davor, dass Konfrontation mit Inhalten der „Anderen“ einen ­gegenteiligen Effekt haben kann. Menschen reagieren oft defensiv und versteifen sich auf ihre ursprüngliche Meinung – und innerhalb einer Gruppe kann es den Zusammenhalt sogar stärken, wenn sich mehrere gegen vermeintlich Andersdenkende von außen verbünden können. Ähnlich vertreten Menschen ihre eigene Meinung meist noch stärker, wenn sie mit Fakten konfrontiert wurden, welche diese widerlegen.

Außerdem sind die Inhalte, die in diesen Filterblasen geteilt werden, oft nicht sachlich komplett falsch, sondern nur ein sehr einseitiger Ausdruck der Realität, der dann mit übertriebenen, extremistischen Weltanschauungen kontextualisiert wird. Daniel Kahnemann schreibt in seinem Buch „Langsames Denken, schnelles Denken“, dass weder die Qualität noch die Quantität von Beweisen eine große Rolle spielen, sondern dass „das Vertrauen, welches Individuen in ihre Überzeugungen haben, hauptsächlich von der Qualität der Geschichte abhängt, die sie über das, was sie sehen, erzählen können“.

Tiefsitzende psychologische Reflexe des Menschen, die auf sozialen Medien verstärkt werden können, siegen also über seine vermeintliche Rationalität. Selbst die höchste Intelligenz kann davor nicht schützen, besonders wenn es um politische, moralische oder andere ähnlich emotional aufgeladene Themen geht.

Zudem entsteht ein weiteres Dilemma. Selbst wenn sich angesehene Medien oder Influencer kritisch mit einer Information auseinandersetzen, vergrößert dies möglicherweise ungewollt die Reichweite der Verschwörungstheorien oder Desinformation und verleiht ehemaligen Rand­ideologien neue Legitimität. Denn: Je öfter der Mensch eine bestimmte Information hört oder sieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie geglaubt oder zumindest in Erwägung gezogen wird – egal in welchem Kontext und besonders, wenn sie aus einer von ihm oder ihr als vertrauenswürdig eingeschätzten Quelle stammt.

Der Umkehrschluss bedeutet allerdings nicht, dass man sich mit den Erfahrungen, Ängsten und Argumenten der anderen Seite nicht mehr auseinandersetzen sollte. Doch es bedeutet, dass wir bessere Lösungen brauchen als ein stures Beharren auf Konfrontation. Das Aufbrechen und Hinterfragen der drei Mythen hat gezeigt: Das Gesamtbild in Deutschland ist komplexer als eine einfache Aufspaltung der Gesellschaft in zwei Lager, und manche der bisherigen Lösungsansätze können die Situation sogar verschlimmern. Die folgenden drei Vorschläge möchten polarisierende Entwicklungen in Deutschland effizienter angehen.

Vorschlag I: Amplifikation vermeiden

Jeder Like, Retweet oder Kommentar unter kontroversen Postings trägt dazu bei, dass dieser Post von mehr Menschen gesehen wird. Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Journalistinnen und Journalisten sich damit auseinandersetzen. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist zweierlei notwendig.

Erstens müssen individuelle Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien dafür sensibilisiert werden, wie ihr Online-Verhalten ungewollt ideologische Brandstifter stärken kann und wie schon einfache Verhaltensänderungen dagegen wirken. Zum Beispiel hilft es, den Screenshot eines Tweets zu posten und zu kommentieren, anstatt den Tweet mit einem Witz oder einer ebenso emotionalen Retourkutsche direkt zu retweeten. Dies unterbricht die Viralität von Postings und erlaubt trotzdem, die eigene Meinung kundzugeben.

Zweitens sollte es mehr Ressourcen und Fortbildungen für Medienschaffende über Methoden geben, mit deren Hilfe Berichterstattung über Online-Phänomene möglich ist, ohne Schaden herbeizuführen. Solche Hilfestellungen sind für Themen wie Suizid oder Terrorismus längst etabliert und sollten auf Berichterstattung über Verschwörungstheorien oder extremistische Akteure ausgeweitet werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Reportreihe „The Oxygen of Amplification“ von Whitney Philipps für Data&Society.

Vorschlag II: Radikalisierenden Tendenzen durch soziale Medien stärker entgegentreten

Soziale Medien sind nicht das Hauptproblem, sondern entfalten ihre radikalisierende Macht momentan stark durch das Zusammenspiel mit traditionellen Medien. Kommende Generationen aber werden vor allem Nachrichten über soziale Medien konsumieren. Dies führt dazu, dass politische Themen nur noch denjenigen angezeigt werden, die sich dafür interessieren.

Gleichzeitig erleben all diejenigen, die sich für Politik interessieren, online eine zu Extremen neigende Diskussionskultur. Um zu verhindern, dass vor allem Jugendliche extremistischen Narrativen zum Opfer fallen, ist auch in diesem Bereich eine solide Ausbildung im Umgang mit neuen Medien unerlässlich.

Gleichzeitig sollte man auch darüber nachdenken, nicht nur Jugendlichen, sondern auch Älteren mehr Fort- und Weiterbildung anzubieten, um mit Desinformation besser umzugehen und die Medienkompetenz generell zu steigern. Immerhin liegt das Durchschnittsalter auf Querdenker-Demonstrationen laut einer Studie von Oliver Nachtwey, Nadine Frei und Robert Schäfer bei 47 Jahren.
Ebenso sollten nicht nur Individuen, sondern auch die Plattformen noch strenger zur Verantwortung gezogen werden, um verfassungswidrige Narrative oder demokratie­gefährdende Fehlinformation rigoros zu verhindern.

Vorschlag III: Die Unsichtbaren sichtbar machen

Die meiste Aufmerksamkeit erhalten momentan diejenigen, die am lautesten schreien. Stattdessen müssen wir Möglichkeiten schaffen, besonders denjenigen Gehör zu verschaffen, die am Anfang als die „Unsichtbaren“ beschrieben wurden. Diese Gruppierung fühlt sich wenig wertgeschätzt, häufiger einsam und fremdbestimmt – und ist bezüglich Politik ­häufiger desinteressiert. Politik, Medien sowie politische und soziale Stiftungen können hier also einen wichtigen Teil dazu beitragen, die „Unsichtbaren“ und ihre Sorgen, Nöte und Meinungen stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einzubinden. Dazu müssen sie allerdings möglicherweise aus ihren eigenen Blasen – online und offline – ausbrechen.

Alles in allem sollten wir uns nicht darauf ausruhen, dass Deutschland weniger polarisiert ist als viele andere Länder. Auch in unserem Mehrparteiensystem können sich schnell unüberwindbare Gräben bilden, in einigen Bundesländern gewinnt die AfD rapide an Zustimmung. Auch bei uns kann der Strudel aus Hass und Hetze, gekoppelt mit traditionellen Medien, das Klima so vergiften, dass kein liberal-demokratisches Handeln mehr möglich ist. Auch bei uns steigt Ungleichheit.

Es gilt also, die liberale Demokratie jetzt zu schützen. Dazu müssen wir allerdings unser Schwarz-Weiß-Denken über Polarisierung aufbrechen, um sinnvolle und effiziente Wege zu finden, spalterische Tendenzen in unserer Gesellschaft zu überwinden.

Paula Köhler arbeitet als Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und ist Mitglied von WIIS.de.